Anne de Bretagne – leise Regionalität
Ein bisschen skurril ist dieser Ort schon. La Plaine-sur-Mer, eine kleine Gemeinde im Pays de Retz im Westen Frankreichs, wirkt kurz vor Beginn der französischen Schulferien wie ausgestorben. Auf den Straßen ist keine Menschenseele zu sehen, Dutzende verlassene Ferienhäuser mit geschlossenen Fensterläden säumen die Straßen, die meisten Gartenzäune sind aus Kunststoff; vermutlich hält das der atlantischen Witterung besser stand.
Inmitten dieser etwas morbiden Tristesse fällt das Hotel Anne de Bretagne angenehm aus der Reihe. Allerdings – auf den zweiten Blick – auch nicht so uneingeschränkt angenehm, dass der Mangel an persönlichem, luxuriösem Flair, den man von Relais & Châteaux-Mitgliedshäusern sonst gewohnt ist, nicht sofort auffiele. Der Empfangsbereich ähnelt drittklassigen Hotels in Bahnhofsnähe; in den Fluren stolpert man über Reinigungsutensilien; viele Oberflächen sind abgenutzt. Der Blick aus meinem geräumigen Zimmer auf den Atlantik und die schroffe Küste sorgt dennoch für Entspannung.
Ich schloss dieses Haus auf meiner Reiseroute ein, die von der Provence über das Périgord und La Rochelle bis nach Nantes führt, um hier noch zwei Tage zu verweilen, bevor es mit dem Flugzeug zurück nach Deutschland geht.
Den ersten Abend rettet mich ein hervorragender 2005er Château Rayas (€ 280) von der überraschend exzellenten Weinkarte über den Jugendherbergs-Charme des »normalen« Restaurants hinweg. Am zweiten Abend hat dann glücklicherweise das Gourmet-Restaurant geöffnet. Meine Reservierung steht.
Sofort wird klar, welcher Bereich des Hauses die größte Fürsorge erfährt. Hochwertiges Mobiliar, feines Geschirr und makellos gebügelte Tischdecken kontrastieren das restliche Interieur und ergeben eine einladende Kulisse für einen Abend mit der zweifach besternten Küche von Mathieu Guibert.
Mit dem Rest einer Flasche 2017er Chablis 1er Cru »Butteaux« von der Domaine François Raveneau für sagenhafte € 90 (der aktuelle Marktpreis beträgt das Dreifache), die ich bereits am Nachmittag öffnen ließ, sowie einer halben Flasche 2014er Côte Rôtie von der Domaine Jamet (€ 75) bin ich weinseitig auch schon gut aufgestellt.
Die Speisekarte ist vielfältig und bietet mehrere inhaltlich und quantitativ unterschiedliche Menüs sowie eine kompakte A-la-carte-Auswahl mit Gerichten um die € 50. Ich entscheide mich für das umfangreichste Menü »Quintessence« (€ 165).
Ein Grußwort des Küchenchefs betont den respektvollen Umgang mit den Ressourcen und Produkten der Umgebung, sich selbst bezeichnet er poetisch als »Kind der Erde, Sohn des Meeres«. Es lohnt sich, den gesamten Text zu lesen.
Als in diesem Moment der graue Himmel aufreißt, den Saal mit Abendsonne flutet und das Meer funkeln lässt, fühlt sich das gerade richtig gut an.
Ein Amuse-Bouche ändert nichts an meiner Laune. Eine Kreation mit einem Tempura von Kaisergranat – hauchdünn, perfekt knusprig, wenig fettig – und, separat, kleinen Krabben unter einem zitrusfrischen Gelee begeistert mit exzellentem Handwerk, angenehmer Wärme gleich zu Beginn und exzellenten Zutaten. (8/10)
Das eigentliche Menü beginnt dann mit einer Kreation um ein Tatar aus Meeresschnecken (bulots und bigorneaux), das mit einem Algencoulis und Seeigelschaum serviert wird. Trotz der geschmacklich kräftigen Zutaten gelingt es hier vor allem durch Texturen (Tatar und üppiger Schaum), das unmissverständlich maritime Thema in ein kurzweiliges Wechselspiel zwischen Eleganz und vollmündiger Üppigkeit zu verpacken. Erneut hervorragend. (8/10)
Es geht weiter mit einer Variation von weißem Spargel. Eine lauwarme Tartelette mit dünnem Teig und ebenso dünn aufgeschnittenen Spargelstücken vereint Herzhaftigkeit und leichte Süße; ein cremiges Spargelsorbet mit daran angelehnten, leicht knusprigen Spargelscheiben schmeckt himmlisch gut dazu, und eine separat servierte, aufgeschäumte und mit Algenbutter montierte Spargelbouillon, die man sich ganz nonchalant auf den Esslöffel träufelt, vereint diese Welten mit Salz, Wärme und Opulenz. Der hier präsentierte weiße Spargel des Erzeugers Poupard ist ein Ausnahmeprodukt, das authentisch, abwechslungsreich und äußerst wohlschmeckend in Szene gesetzt ist. Eine Referenz. (8,9/10)
Das nächste Gericht ist ein Risotto mit geräuchertem Aal. Das vollmundige, leicht rauchige, warme und genau richtig gesalzene Risotto, wird dabei in mehreren Dimensionen kontrastiert: zum einen von rohem, kühlem bretonischem Kaisergranat, der in dicken Stücken darauf verteilt ist, zum anderen mit dünnen Streifen von grünem Apfel, die gezielte Säureakzente setzen, dazu entdecke ich noch Dill und Estragon. Eine schaumige, süffige Parmesanemulsion rahmt das großartige Gericht ein. (9/10)
Der nächste Gang, den ich inzwischen schon kaum erwarten kann, präsentiert ein Filet vom Petersfisch. Dies thront auf einem Schaum von einer Tomatenessenz und einem Bett von kleingeschnittenen Brechbohnen und Schalotten. Das ergibt ein »bürgerliches« Geschmacksbild, welches durch feinste Produkte und makelloses Handwerk seinen berechtigten Platz in der Hochküche findet. Das Transportieren von Gerichten mit bodenständigen Referenzen auf die Tische von Sternerestaurants ist etwas, das man in Deutschland kaum findet und ist einer der Gründe, warum Spitzenküche für Franzosen viel nahbarer ist als bei uns. Ein separat serviertes Kännchen mit buttriger Tomatenessenz leere ich genüsslich, während draußen die blaue Stunde beginnt. (9/10)
Es geht weiter mit einer buttrig-schaumigen Krustentierbisque mit Eisenkraut. In dieses schon ganz für sich allein sprechende, seidige Elixier wurden noch Stücke von bretonischem Hummer sowie Champignons eingelegt – selbst die können sich mit ihrem waldig-erdigen Geschmack durchsetzen. Das schlicht anmutende Gericht bietet Üppigkeit, Süße, Frische, Herzhaftigkeit und Weltklasseprodukte in einer atemberaubenden Melange zum Augenschließen. Mehr gourmandise geht nicht. (10/10)
Ich kann dabei nicht oft genug betonen, wie bereits die Anrichtweise von Gerichten, die ohne besondere »Teller-Basteleien« auskommt und schlicht und ohne besondere Ausrichtung in der Tellermitte stattfindet, ein gewichtiger Indikator für Großartigkeit ist – besonders dann, wenn man in einem Spitzenrestaurant sitzt, das so hervorragende Produkte bezieht.
Als nächstes folgt ein Fleischgang mit Jersey-Rind und Kartoffeln, jeweils in verschiedenen Zubereitungen. Das von einem lokalen Züchter bezogene Fleisch findet man gegrillt als onglet (Nierenzapfen), dann sous-vide gegart als Filet sowie geschmort. Die abwechslungsreiche Textur und das authentische Aroma des onglet präferiere ich deutlich, doch auch die geschmorte Version, die mit einer süffigen Zwiebelzubereitung getoppt ist, schmeckt hervorragend. Dazu beeindrucken unterschiedliche Kartoffelzubereitungen: als schaumiges Püree, als luftige, knusprige Pommes soufflées und, ganz natürlich, in Form einer halben Ofenkartoffel. Zu alldem ist die Sauce ein weiterer Höhepunkt des Gerichts. Ein laut Menü »großzügig aromatisierter«, goldfarbener Rinderjus, bei dem Senfkörner, Schalotten und verschiedene Kräuter für süffige Säure sorgen, die beinahe an eine Vinaigrette erinnert, untermauert das Weltklasseniveau dieses Tellers. (8,9/10)
Der erste Aufschlag der Patisserie ist ein »flüssiges Himbeerherz«, bestehend aus einer Art Praline mit einer flüssigen Füllung aus Himbeere und Eisenkraut, die mit einer »Wolke« und einem Sorbet aus Chartreuse-Likör bedeckt ist. Die flüssige Himbeerfüllung ist nicht zu süß, dafür aber durch das Eisenkraut wundervoll aromatisiert, wie ein Parfüm. Auch die Kräuternoten von Schaum und Sorbet passen hervorragend dazu. Selten begeistert mich ein (kreativeres) Dessert so unverblümt. (9/10)
Die nächste Kreation – die erste etwas »konstruierte« in diesem Menü – rankt um Melone und Ingwer. In einem Teigzylinder gibt es Ingwerschaum, dazu Zitronen-Mousse mit Melone in winzigen Kuchenstückchen sowie ein Sorbet aus »konzentrierter Melone«, das geschmacklich interessanterweise an Sojasauce erinnert. Falernum, ein karibischer Likör, spielt auch noch eine Rolle. Insgesamt gibt es viel zu entdecken, alles ist handwerklich auf hohem Niveau und geschmacklich mehr als stimmig – ohne dabei jedoch an die Großartigkeit des bisherigen Menüs anzuschließen. (7,9/10)
Einige Pralinen mit geläufigen Zutaten wie Gujana-Schokolade und Kalamansi(-aroma) runden das Menü wenig überraschend, aber sehr gut, ab. (7/10)
Weitere Überraschungen hatte ich nach den vielen überragenden Gängen auch gar nicht nötig. Die Küche von Mathieu Guibert – mit Spitzenprodukten und makellosem Handwerk – trägt ihre Herkunft stolz, aber leise, vor sich her. Sie ist fast unauffällig regional und doch eindrucksvoll in der Region verwurzelt. Alldem begegnet man in Form von eindringlich wohlschmeckenden Gerichten.
Gegen kurz vor elf Uhr ist es immer noch etwas hell draußen. Das Meer ist unruhig und der Himmel unentschlossen, ganz anders als ich. Denn ich kann mit gelassener Entschlossenheit sagen: Das alles hier war mehr als hervorragend.
Informationen zu diesem Besuch | |
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Restaurant: | Anne de Bretagne (→ Website) |
Chef de Cuisine: | Mathieu Guibert |
Ort: | La Plaine-sur-Mer, Frankreich |
Datum dieses Besuchs: | 06.07.2021 |
Guide Michelin (F 2021): | ** |
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